Virtueller Messebesuch – Logbuch einer interaktiven Irrfahrt

Digitale Messen sind in Zeiten von Covid-19 das Mittel der Wahl, um Leads zu generieren. Die Herausforderung liegt im Medium per se und treibt B2B um. Die Frage lautet: Kann sich das ehemalige „People-Business“ Messe wie ein Phönix aus der Corona-Asche in eine digitale Welt erheben? So unkt es aus vielen Ecken: Digitale Messen, was soll das bringen, sowas macht doch keiner, das sei ja kein Ersatz. Zeit für einen Test.

Die Dame strahlt mich an: „Hallo. Kann ich Ihnen behilflich sein?“ Sie ist ein Icon, wirkt dafür ganz nett. Im Gegensatz zu ihr bin ich echt und Besucher der eREC, erste virtuelle Messe der Recycling-Industrie. Es ist der Beginn einer Odyssee, die mich erschöpft an den Gestaden der neuen Realität zurücklassen wird. Denn fällt das Ablegen noch leicht, gestaltet sich bereits die Kursbestimmung schwierig, läuft man doch ständig Gefahr einer Kommunikationsflaute.

Die prognostizierten Mehrwerte für Aussteller klingen bekannt: Qualifizierte Leadgenerierung, Erschließung neuer Kundengruppen, Sammeln von Kontaktdaten. Neu ist dagegen „24/7 geöffnet“ und erinnert an Fast-Food-Ketten, wo man auch morgens um drei noch Burger verdrücken kann. Ich beschließe, es einem Aussteller leicht zu machen und mich als Köder für einen „qualifizierten Lead“ zu positionieren. Ich habe einen groben Plan und fange an zu suchen.

 

Stand-Hopping bei geringer Windstärke

Zum Start präsentieren sich die Firmen über Logo und Text. Viel zu viel Text. Hier recherchiert man entweder konkret Hersteller oder liest alternativ in Romanlänge Firmenbeschreibungen in der Hoffnung, einen Treffer zu landen, was den eigenen Bedarf angeht. Das dauert mir zu lange, also folge ich alternativ den Pfeiltasten und klicke mich von Booth zu Booth. Bereits dieser Abschnitt der Reise gestaltet sich als windstill. Kein lächelndes Standpersonal, keine Erfrischungen, keine Produktlösungen in Aktion, um die Segel zu füllen. Wo bleibt die Spannung, wie kompensiert man diese Faktoren?

Zum Beispiel durch Videos. Die sind eingebunden in die Gestaltung des virtuellen Messestands, der wiederum auf Templates basiert. Genau wie die „innovative Darstellung“ von Produkten und Leistungen. Erster Eindruck: Bewegtbild trennt die Spreu vom Weizen, was die Unternehmenskommunikation angeht. Die besten Videos mit den relevantesten Inhalten scoren, das weiß man spätestens seit YouTube, und das ist auch hier der Fall. Alles andere ist Sachebene. Und die ist bekanntermaßen schlecht für den Vertrieb. Aber um genau den geht es hier, denn ROI ist nach wie vor das Gebot, dem sich alles unterzuordnen hat, will man wirtschaftlich agieren. Also: Wo sind die Trigger, was manipuliert meinen inneren Kompass und formt mich zu einem Lead?

Und wie hat das eigentlich früher funktioniert?

 

Früher war alles teurer

Messen in ihrer ursprünglichen Form waren seitens der Unternehmensentscheider häufig Anlass für mahnende Zeigefinger. „Sales, Sales, Sales“, lautete die Devise, denn so ein Stand galt als  teurer Spaß. Inklusive Gebühren, Personalkosten, Catering und Hotel lagen namhafte Firmen im Rahmen großer Branchen-Events locker im sechsstelligen Bereich. Lukrativ für die Messe-Betreiber, keine Frage, aber auch eine Kröte, die es zu schlucken galt für die Unternehmen, wollten sie im Get-together nicht fehlen. Reiner Zugzwang. Und es musste Entertainment her und dafür sorgen, dass der Rubel ins Rollen kam. Es gab erste, die sich dem Druck verweigerten.

Und dann kam alles anders. Die Situation um Covid-19 und social distancing erfordert nun Umdenken, eröffnet neue Wege und damit Chancen. Das hat mittlerweile (fast) jeder begriffen. Doch nicht jeder liebt Veränderungen. Es sei denn, die spülen Money in den Märkerbüttel.

Und apropos Money: Einen virtuellen Stand bekommt man auf der eREC für 3.000 – 5.000 Euro, je nach Paket. Im Vergleich zu einem „echten“ Auftritt ist das ein Unterschied von Lichtjahren. Hotels, Goodie-Bags, Standpartys – alles Schnee von gestern. Wenn sich nun herausstellte, dass Firmen im Verhältnis eine lukrativere Leads-Masse generierten als im Realo-Szenario – die Live-Messe verschwände auf Nimmerwiedersehen im Wurmloch ihrer investitions-schwangeren Vergangenheit. Und die Kritiker würden verstummen.

 

Ein Tropfen in der digitalen Flut

Aber wie läuft das denn jetzt genau „in digital“? Da buhlen blinkende Buttons um Aufmerksamkeit der Betrachter. Via Mouseover erfährt man um die Inhalte hinter dem Geflimmer und klickt, wenn’s denn beliebt. Neben erwähnten Videos gibt es Downloads in Form von Flyern und Broschüren. Auch Webinar-Angebote und Verlinkungen zu Social Media Auftritten finden sich en masse.

Im Homeoffice lauernde Vertriebs- und Servicemitarbeiter warten auf Anfragen via Chat oder Kontaktformular. Gut gelöst und neben den Webinar-Stimmen eine weitere wichtige menschliche Komponente. Auch die Appointment-Software funktioniert. Ich sichere mir einen Termin von 15 Minuten. Der Mitarbeiter ruft mich an, ist gut gelaunt und höflich. Ich stelle viele Fragen und bin nicht kompetent, was schnell den zeitlichen Rahmen sprengt. Er bietet mir einen Rückruf an. Okay, in Ordnung, der Nächste bitte.

Die raue See des Unbekannten liegt hinter mir, ich habe das Konzept durchschaut und navigiere sicher zwischen 4 – 5 Ausstellern, die mich interessieren. Waren Messeauftritte bisher von Ideen und Menschen geprägt, hagelt es im virtuellen Geschehen Pop-Up-Anfragen und Design-Klone. Da gilt es schnell zu selektieren, bevor sich der Hirnskorbut ausbreitet. Ein Dialogfenster entert überraschend mein Deck und fordert Kontaktdaten, damit ich „weitere Infos“ erhalte. Die eREC versichert mir immerhin, dass hier alles „100 % DSGVO-konform“ ist.

 

Startups and Endings

Für die finale Etappe fange ich – aus Langeweile? - an zu kreuzen und segle in die Start-Up-Bucht. Hier nichts Neues. Anfrage-Automatismen vom „Standpersonal“, ein weiterer Webinar-Besuch, Booth-Hopping. Mein Törn nähert sich dem Ende. Keine Frage, den Füßen geht’s gut – die waren unterm Tisch zeitweise eingeschlafen -, das kennt man von Real-Life-Messebesuchen anders. Dafür hat sich Verwirrung breitgemacht durch beständige Monitorfixierung und lineare Content-Flut. Die Strömung hat mich letztendlich abgetrieben, mein Interesse an weiteren Inhalten ist gesunken. Da kommt der Rückruf und rüttelt mich wach! Stark, das hat geklappt.

Und die Stimme am anderen Ende der Leitung beweist: Echtheit, Ehrlichkeit und Empathie bleiben die Säulen eines seriösen Vertriebs. Seinem Gegenüber in die Augen schauen, seine Hand schütteln, den Deal auf Augenhöhe besiegeln (und sei es über die Stimme am Telefon) – das ist digital einfach nicht zu machen. Zur Leadgenerierung ist das Medium der Online Messe sicherlich geeignet. Ob es sich letztendlich lohnt, müssen die Aussteller entscheiden. In jedem Fall bleibt die virtuelle Messe von der User Experience her eine Spielwiese der Herausforderungen, bei der man auf zukünftige Lösungen gespannt sein darf.

 

Bist du anderer Meinung? Oder willst du mehr Details?
Ich freue mich jederzeit über ein gutes Gespräch.
 

Carsten Díaz

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